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Fontenay

Erneut meldet sich Gastautor Urs Humpenöder zu Wort. Er ist in der Zwischenzeit offenbar von Mecklenburg-Vorpommern nach Frankreich gejoggt, um dort endlich die Genüsse der motorisierten Fortbewegung kennenzulernen. Herzlichen Glückwunsch, Urs. 

urs katzeIn Saint-Cloud fahren wir auf die Autobahn Richtung Mantes. Es regnet stark und Antoine stellt den Tempomat seines C4 auf 112 km/h. Wir hören Neil Young zu, wie er vom „Heart of Gold“ singt. Antoine sagt, dass ihm die Nudeln mit Tomatensauce von Gabriel nicht geschmeckt haben. Die Scheibenwischer sind über 160.000 Kilometer alt und schreien bei jeder Bewegung. Auf einem CD-Regal in Gabriels Wohnung war eine kleine Katze aus Stein, die auf den Boden starrte. Wo sie hinschaute, stand neben einem roten Plastikstuhl eine durchsichtige Kiste mit Kants „Critique de la raison pure“ und anderen Büchern. Jetzt fahren wir in einen Tunnel und werden aufgefordert, unser Feuer zu entfachen, „Allumez vos feux.“ Bald danach biegt Antoine ab auf die Landstraße Richtung Fontenay-Saint-Père. Er gibt Gas und ich habe Angst, dass er einen Unfall baut. Der Regen wird immer stärker und Neil Young wird von Eric Clapton abgelöst.

Plötzlich sehe ich Amber mit ihrem rot und grün geschminkten Gesicht und ihrer blonden Schneckenfrisur. Amber, die plötzlich in einer Welt lebt, in der es nur noch Jugendbanden gibt und keine Politiker, Polizisten oder andere Autoritäten. Amber ist eine der Protagonistinnen von „The Tribe“. Ich träume, dass ich auch eines dieser Kinder sei, die in einer Welt leben, in der es keine Erwachsenen mehr gibt. Alle älteren Menschen wurden von einem Virus dahingerafft. Ich schaue zur Seite und Antoine blick konzentriert auf die Straße. Er wäre der beste Autofahrer und gleichzeitig der,urs frankreich der am längsten aufbleiben kann. Und der, der immer zu spät käme. Aber in einer Welt ohne Erwachsene gäbe es kein Zuspätkommen.  Als ich aufwache, sind wir immer noch auf der Landstraße. Der Tacho zeigt 87 km/h an. Ich halte mich am Griff in der Autotür fest und schaue aus dem Fenster. Ich habe Angst, weil mich „The Tribe“ eingeholt hat. Hier, in Frankreich, mehr als zehn Jahre später. Nur weil der Regen mich so müde gemacht hat. Damals saß ich mit meinem Bruder vor dem alten Röhrenfernseher und wir schauten stundenlang KiKa und SuperRTL. Zumindest fühlt sich das heute so an. Ich glaube, er hat nie so viel „The Tribe“ geschaut wie ich, er hatte Angst davor. Die Schauspieler hatten blaue und rote Haare, waren düster geschminkt und hatten die abgefahrensten Waffen und Fahrzeuge. Am Anfang sind alle noch ständig mit Rollerblades durch die „The Tribe“-Szenerie gefahren, wo immer irgendwo was brannte. Und es gab einen Hund, der immer einen Ring aus blauer Farbe um sein Auge hatte. Damals gab es noch keinen Neil Young, keine „raison pure“ und keine Angst vor einem Autounfall.
Es gab den Morgen, den Mittag und den Abend. Und das Dazwischen.

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stefan mesch

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