Unterwegs in einem Deutschen Mittelgebirge. Oder: Wie ich in der Fränkischen nie Rudolf Heß begegnete

Auf dem Weg nach Unterleinleiter komme ich an Gräfenberg vorbei. Gräfenberg, denke ich, da liegt doch Rudolf Heß begraben. An dieser Stelle täuscht mich, wie sich später zeigen wird, mein Gehirn. Rudolf Heß lag nie in Gräfenberg, er lag in Wunsiedel und selbst dort liegt er heute nicht mehr, nachdem die Pacht 2011 auslief und die Gemeinde beschloss, die Pilgerstätte, die aus seinem Grab geworden war, aufzulösen, und seine Knochen zuerst dem Feuer und seine Reste dann dem Meer zu überlassen.

In Unterleinleiter stelle ich den Picasso auf den Wandererparkplatz gegenüber des Friedhofs. Nebenan findet ein Fußballspiel statt. Die Spielvereinigung Dürrbrunn-Unterleinleiter beharkt sich mit dem Sportverein Kleinsendelbach. Kurz überlege ich, mich am Spielfeldrand dazuzustellen, dann mache ich mich auf den Weg in Richtung Ortszentrum.

Die Pizzeria steht leer. Die Gardinen sind zugezogen. Niemand hat es für nötig gehalten, die Polster vor den Bierbänken zu nehmen. An der Tür hängt ein Zettel, der darüber informiert, dass die Pizzeria für private Feiern nach wie vor gemietet werden kann. Ich setze mich auf eine Bierbank, hinter mir plätschert die Leinleiter, vor mir brettern die Motorradfahrer, die vom schönen Wetter in die Fränkische Schweiz gelockt werden, wo sie sich an den schlängelnden Bundesstraßen durch hügelige Landschaften und den Vibrationen der Maschine zwischen ihren Akneschenkeln laben. Ihre aufgeschwemmten Schnurrbartgesichter sind derart in die Helme gequetscht, dass sie mimisch nicht mehr imstande sind, zu vermitteln, wie unvorstellbar die Lust ist, die sie empfinden. Ein übergewichtiges Pärchen schleicht sich an mir vorbei und auf die Dachterrasse der Pizzeria. Vielleicht um rumzuknutschen. Ein junger Rechtsradikaler – Bundeswehrhose, schwarzes Shirt mit silbernem Adler – rollt auf seinen Rollerskates vorbei. Er hat einen schwarzen Pudel und beherrscht das Rollerskaten durchaus mit einem Mindestmaß an Anmut. Er sieht genauso bemitleidenswert aus, wie jeder andere Inliner, aber er hat den Pudel auf seiner Seite. Um 14 Uhr beginnt ein Gottesdienst, schwarzgekleidete Töchter führen ihre schwarzgekleideten Väter am Arm an mir vorbei.

Dann kommen meine Freunde.

Wir schlagen den  Weg in Richtung Volkmannsreuth ein. Es handelt sich um eine Landstraße, ein Umstand für den ich, der ich verantwortlich bin für die Wahl der Route, beschimpft und bespuckt werde. Volkmannsreuth liegt da wie tot. Nicht, als wären seine Einwohner tot, sondern das Dorf selbst. Dahinter fängt der Wald an. Wir steigen hinauf zum Totenstein.

Vom Totenstein blicken wir hinunter nach Veilbronn und die Leinleiter entlang in Richtung Ebermannstadt. Wir stellen uns vor, wie der Ritter Hans Wilhelm von Streitberg hier mitsamt Kutsche und Knecht die hundert, zweihundert Meter hinunterstürzte, wie seine Pferde wieherten und mit den Hufen die Leere traten, wie er selbst, aus einem Suffschlummer, den er sich in Bamberg teuer erzecht hatte, hochfuhr und nur durch den Suffschleier hindurch mitbekam, dass er in diesem Moment in den Tod stürzte. Als wäre das nichts als fieser Traum aus dem er schweißmariniert erwachen würde. Deswegen Totenstein.

Jahre zuvor, heißt es, habe er, der Ritter Wilhelm von Streitberg, endlich einen Sohn, also Erben, von seiner Geliebten empfangen. Einen Sohn, den die Magd noch als Säugling versehentlich in einen Bottich kochendes Wasser fallen ließ, was dieser ebensowenig überlebte, wie ein Hummer es überlebt, wenn man ihn in einen Bottich kochendes Wasser fallen lässt. Der Ritter war wieder ohne Sohn. Die Frau wurde erneut schwanger, sie bekam eine Tochter, die Magd hingegen einen Sohn. Der Ritter spielte mit dem Gedanken, die beiden Kinder auszutauschen, entschied sich dagegen und stattdessen dafür, sein Leben fortan dem Glücksspiel und dem Alkohol zu widmen. Absolute Kapitulation. Und ein mehr als würdiges Ende für einen edlen Herrn. Hans Wilhelm ist der letzte eines über fünfhundert Jahre alten Geschlechts.

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Wir hingegen steigen feige den Wanderweg hinab nach Veilbronn, wo wir uns in einem Biergarten zwischen Rentnern niederlassen, die schon ihre Westen in Sommerbeige aus dem Schrank geholt haben. Sie unterhalten sich darüber, wo sie früher gern hingefahren seien und wo sie heute gern hinführen. Ich esse einen Apfelkuchen. Wir besaufen uns an einer peinlichen Heimatliebe. Nirgendwo schmecke der Kuchen besser, vom Bier ganz zu schweigen, nirgendwo sei das Klima angenehmer, nirgendwo seien die Wiesen saftiger, nirgendwo sei es schlicht lebenswerter, keine andere Gegend dieser vorzuziehen; man muss froh sein, dass einen niemand hört, der keine sommerbeige Weste trägt.

Der Rasen liegt makellos vor Unterleinleiter. Die Spielvereinigung Dürrbach-Unterleinleiter hat drei zu null gewonnen. Zwei Sprenger bewässern gewissenhaft das Geläuf. Die Abendsonne spielt in der Gischt. Das ist ein Rasen in Bundesligaqualität. Manchmal frage ich mich, ob es in der Fränkischen Schweiz auch Obdachlose gibt.

Auf dem Pretzfelder Keller erfährt unsere Heimatliebe einen ersten Dämpfer. Der Keller ist wunderschön gelegen, wir sitzen in einem Märchenwald. Ausgeschenkt wird aber keineswegs Pretzfelder Bier, sondern Mönchshof. Man trinkt mit einem schlechten Gewissen im Genick. Die ganze Anlage ist auch eher eine größere Imbissbude als ein richtiger Keller. Zur Kellerplatte ein weißes Brötchen statt Schwarzbrot. Wir essen Currywurst. Die Aussicht ist fabelhaft, hierher kommen wir nie wieder.

Ich trenne mich von meinen Freunden und sitze allein in einem Auto ohne Radio, aufs Handy glotzend anstatt auf die Straße. Jetzt irgendwie nach Hause kommen ohne vor Langeweile umzukommen.

In Pretzfeld entdecken wir, das heißt, zuerst meine Freunde im Auto vor mir, einen Laden namens Pretzfelder Trödelhäusla. Ein bunt blinkendes Schild informiert uns darüber, dass das Trödelhäusla geöffnet hat. Und das am Tag des Herrn. Interessant, finden wir, das wollen wir uns ansehen, vielleicht gibt es hier Schätze zu heben, hochwertiges Zeug für wenig Geld. Vielleicht kann man hier ein wenig stöbern.

Es ist ein altes Wohnhaus. Die Tür steht offen. Davor einzelne Kisten mit Rollschuhen und anderem Kram, ein Schlitten. Kein Mensch zu sehen. Wir scheuen wie Pferde vor der Schlucht, eine Vorahnung vielleicht. M. wagt einen Schritt in den Flur, der mit Bildern behangen ist, vielleicht kann man die Bilder auch kaufen, ich könnte Bilder gebrauchen.

„Halt“, sagt M., „dort hängt ein Porträt von Adolf Hitler.“

20160508_194344Es handelt sich um eine Art Fahndungsplakat, kein echtes Porträt, etwas, das jemand entworfen und auf einem gelben Zettel ausgedruckt hat. Die Aufschrift lautet: „Vermisst seit 1945. Adolf Hitler, komm zurück.“ Keiner von uns kann das so richtig einordnen. Soll das ein Scherz sein? So offensichtlich wie das da hängt? M. blickt von außen durchs Fenster und entdeckt ein Wahlplakat der Republikaner, irgendwas mit Minaretten. Gibt es die noch, also die Reps? Feige versuche ich das Hitlerbild mit dem Handy zu fotografieren, bin aber zu weit weg, als dass man es so richtig erkennen könnte.

Der ganze schöne Lokalpatriotismus von vorhin ist verpufft. Oh herrlich – so herrlich ist es dann eben doch nicht. Irgendwo lag mal Rudolf Heß, aber nicht hier. Ein unzurechnungsfähiger Trödelhändler hängt sich den Adolf in den Flur. Überall wird Kulmbacher Bier ausgeschenkt.

Gräfenberg tatsächlich wird heute nicht mehr angesteuert. Das mit Heß war nicht ganz so falsch von meinem Gehirn, schließlich liefen die Neonazis in Gräfenberg ganz gern durch die Straßen, von 1999 bis 2011 war das, auch als Ersatzveranstaltung für den in Wunsiedel verbotenen Heß-Gedenkmarsch. Von einem Aktionsbündnis wurden die Nazis dann mehr oder weniger vertrieben, zumindest bis ins fünfzehn Kilometer entfernte Obertrubach, wo NPD und Fränkische Aktionsfront fröhliche Sommerfeste abhielten. Mittlerweile scheint Ruhe eingekehrt. Entsprechende Organisationen sind verboten, die NPD will sich mehr auf Niederbayern und die Oberpfalz konzentrieren. Dort kann man sicher auch toll wandern und Motorrad und Kutsche fahren. Dort ist es auch schön.

Getaggt mit , , , , , , , , , ,

Ein Gedanke zu „Unterwegs in einem Deutschen Mittelgebirge. Oder: Wie ich in der Fränkischen nie Rudolf Heß begegnete

  1. Lisa Burkard sagt:

    die bretternden Motorradfahrer sind herrlich! Grüße von einer Bambergerin, die die Fränggische gern mit dem Rennrad durchstreift.. :o)

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stefan mesch

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