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Balkan-Diary 2: Die Attraktion ist der Mensch (Plitvicer Seen, Starigrad)

Auf der kurvenreichen Küstenstraße zwischen Zadar und Starigrad herrscht zumindest teilweise eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 50 km/h. Weil ich schon seit geraumer Zeit spüre, wie mir die Einheimischen im Nacken sitzen, wie sie auf mein Kennzeichen schielen und fluchen auf die gesetzestreuen Touristen und ihre Art hier über ihre Küstenstraße zu schleichen, fahre ich eh schon eher 60, teilweise 70 km/h. Um die Demütigung ein wenig abzumildern.

Ich fahre hier ja zum ersten Mal. Ich weiß ja nicht, wie man das macht. Ich hatte gerade ein Thunfischsteak und danach gab es noch einen Honigbrandy, aufs Haus versteht sich, der Deutsche am Nebentisch erkundigt sich direkt händeschüttelnd nach dem Namen des Kellners und der lässt es sich nicht ansehen, ob ihm das unangenehm oder doch ganz recht ist.

Und jetzt, Honigbrandy im Kopf, Stracciatella im laktoseintoleranten Magen, zurück von Starigrad fast bis Tribanj, Camping Navis direkt an der so berühmt steinigen, dalmatinischen Küste. Der Nachbar vom bayrischen Wald jagte vorhin noch eilig zum Strand: Der Delfin is wieda do!, schreiend und nach seiner Frau, die ihn aus dem Wohnwagen heraus wissen ließ, sie müsse erst noch ihr Handy finden. Und dann standen wir an der berühmt steinigen Küste und warteten gemeinsam auf den Delfin. Der Bayer und der Schwarzwälder, wir Franken, ein paar Holländer, viel ledrige Haut, gegerbt in der dalmatinischen Sonne, viel geblähte Bäuche, weil es hier so gut schmeckt und zu knappe, viel zu knappe Speedos über Männerhintern. Aber kein Delfin, nicht mehr, nicht für mich.

Die Küstenstraße hier her, an diesen Ort zwischen zwei Orten, in diese Bucht, schlängelt sich zwischen Küste und Bergen und das ist dann, wie man so schön sagt, malerisch. In der Dämmerung aber kommt jede Kurve überraschend, kommt jede Geschwindigkeitsbegrenzung ungelegen. Lieber runterschalten, lieber langsam, bald sollten wir da sein, ein Kleinwagen, der mir die ganze Zeit schon so bedrohlich am Arsch klebte, drängt sich vorbei. Gut so, verpiss dich, bitte. Und da ist auch schon das Schild, Camping Navis, 200 m, langsam, Blinker, zweiter Gang. Ich bremse, will rüber, Spiegel, Schulterblick: Ey! Der Lieferwagen, der mir jetzt so bedrohlich auf dem Kofferraum klebte, wollt gade jetzt ganz gern vorbei, ich schon auf der Fahrbahnmitte. Ich sage: Alter! Spack! Und er wahrscheinlich etwas sinngemäß Gleiches auf Kroatisch.

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Es ist jetzt Vorsaison in Kroatien. Ein Wort, das sich schon so verlockend anhört. Vorsaison, man ist vor den anderen da. Man kommt heim und erzählt schon, wie es war, wenn die anderen erst aufbrechen. Vorsaison und man hat ein bisschen mehr von allem und den Strand für sich und der Schnaps geht aufs Haus.

Wenige Tage zuvor: Plitvicer Seen. Ja, Karl May, Winnetou und so, hier wurde doch irgendwas gedreht, das sagen die Leute zu einem und man selbst wiederholt es dann und der bzw. die gegenüber, in meinem Fall H., bestätigt das, ja, das habe sie auch gehört. Wir haben die Filme beide nicht gesehen. Ich halte die auch für schlimm langweilig. Aber die Hörspiele auf Kassette fand ich als Kind immer schön und ich musste auch fast nie weinen, wenn Winnetou dann stirbt, glaube ich.

Unterm Strich jedenfalls behauptet jeder Landstrich in Kroatien, auf dem es drei Bäume oder zwei Seen oder einen Wasserfall gibt, dass hier irgendeine der Karl-May-Verfilmungen gedreht worden sei. In Starigrad gibt es ein Winnetou-Museum, das zu einem Hotelkomplex gehört und laut Tripadvisor schön aber schwer zu finden ist. Wir gehen nicht hinein.

Von den Plitvicer Seen heißt es zweitens: Ja, die sind sehr schön, die muss man gesehen haben, aber Vorsicht, überlaufen. Wir denken: Vorsaison. Auf dem nahegelegenen Campingplatz ist auch noch viel frei, die Nachbarn sitzen vor ihrem Wohnmobil, hören Deutschrock und sehen ganz und gar nach Thüringen aus. Ein Frau erklärt ihrem Mann, dass sie jetzt das Toastbrot essen müssen, weil in dem Klima doch alles so schnell schimmelt. Eine andere fragt, weil wir doch junge Leute seien, ob wir auf unseren Handys nachschauen könnten, wie morgen das Wetter wird. Nur die Deutschen, scheint es, haben in 2018 überhaupt noch das Kleingeld, um auf Reisen zu gehen, aber wahrscheinlich war das schon immer so, bzw: Es gibt halt einfach viele von uns, Binsenweisheit.

H. hat sich im Vorfeld erst mal ein paar Geheimtipps im Internet angelesen. Zum Glück gibt es das Internet, wo alle Geheimtipps ganz schnell zu finden sind. Ein Blogger verrät, man solle sich den großen Wasserfall für später aufheben, am Abend ist weniger los, und zuerst einen J-förmigen See im Norden aufsuchen, der weniger Aufmerksamkeit abkriegt, aber auch schön ist.

Wir nehmen also zuerst das Schiff – kleine Überfahrt, große kindliche Freude meinerseits – nicht, weil das zum Plan gehört, sondern weil wir gar keine Wahl haben. Alle Besucher vom Eingang 2 werden zunächst mal verschifft. Dann versuchen wir, uns in Richtung des J zu halten. Die sporadisch aufgestellten Schilder sind, möglicherweise mit Absicht, absolut unbrauchbar: Mal ist von Wegen von 1 bis 10, mal von Routen mit den Buchstaben H,I,J,K die Rede und da, wo man einfach einen Wegweiser gebrauchen könnte, steht eh keiner. Google bringt auch nix, wir laufen wieder mal komplett in die falsche Richtung.

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Und das ist sehr gut, denn hier, auf einen Trampelpfad entlang eines dieser Seen, treffen wir nur ganz selten auf Menschen. Vielleicht weil der Weg durch eine Matschgrube führt und das will man ja auch nicht. Anders die Situation dann tatsächlich in Richtung des großen Wasserfalls. Das ist so ein Teil, wo man zwei Mal überlegt, ob man es jetzt überhaupt fotografieren soll, weil es ja so oft fotografiert worden ist und dann macht man es trotzdem und fühlt die Sinnlosigkeit aller Dinge.

Auf den Stegen, die zum Slap führen, drängen sich die Reisegruppen. Viele Asiaten jetzt. An dieser Stelle ist nicht mehr die Natur die Attraktion, sondern – vergleiche, Deflin und Strand –  der Mensch. Männer, deren haarige Bäuche frech aus den T-Shirts spitzen, Mädchen mit Tops, die von Partynächten berichten, die aufgeregten japanischen Paare und die jungen Frauen, die lange warten und posen, bis endlich, endlich das richtige, das perfekte Profilbild entstehen kann. Ein paar Meter weiter posiert auf demselben Steg ein Mann für seine Frau und versucht, seine Gesichtsmuskeln im Griff zu behalten und man kann sich so gut vorstellen,wie viele Profilbilder an einem solchen Tag an einem solchen Ort entstehen und wie die unterschiedlichen Facebook-Bubbles dann unterschiedlich darauf reagieren: So sweet, Hübsche! (viele Herzen), die einen, Gut schaust aus, schönen Urlaub noch (großer Smiley mit Daumen nach oben), die anderen.

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In einer Kehre, weg vom Wasserfall, den Berg hinauf, bleiben wir auf einer Bank sitzen. Ein Reiseleiter hält hier ein Schar wissbegieriger Rentner und Winnetour-Fans zusammen: Sie gehen jetzt hier über den Damm und dann rechts bis zum großen Wasserfall. Keine Hektik, wir haben Zeit, wiederholt er immer wieder und er hört sich dabei unverschämt so nett und angenehm an, dass wir noch ein wenig länger sitzen bleiben. Ich hör das irgendwie so gern, sage ich. Ich auch, sagt H.

Und dann sitzt er auch schon neben uns: Tut mir leid, dass ich hier so eure Ruhe störe, sagt er und wir beteuern, das mache gar nichts und Ruhe sei hier doch eh nicht so. Wir blicken auf die vielbeinige Menschenschlange, die sich an uns vorbeischlängelt. Ihr habt Glück, sagt der Reiseleiter, ein mittelalter Mann mit einer braunen Wolkenfrisur, heute ist wirklich wenig los. Das überrascht uns doch ein wenig. Ja, viele Menschen seien hier im Sommer halt immer. Dann passen Sie mal auf, dass sie niemand verlieren, sage ich und lache. Sie lachen, sagt der Reiseleiter, aber das passiert uns Reiseleitern wirklich oft. Die Leute kennen sich noch nicht und dann laufen sie einfach irgendjemand hinterher.

Er seufzt ironisch und man merkt, dass er ein gutes Verhältnis zu seinem Job hat und vom dem würde man sich auch gerne mal Kroatien zeigen lassen. Und dann rät er mir noch, nach Brac zu fahren, klar da sei jetzt auch alles packed, aber sein Lieblingsort in Kroatien. Und wenn der das sagt, denke ich. Dann muss er weiter, den großen Wasserfall herzeigen wie etwas von sich selbst und ich wüsste so gern, wie oft er ihn schon gesehen hat und ob das noch irgendetwas mit ihm macht.

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Fetisch Einöde. Teil 2: Falsche Entscheidungen

Tag zwei und schon wird das Alleinsein zum ersten Mal zur Qual. Man fühlt sich nicht mehr wohl mit so einer Reise, die man sich ausgedacht hat wie ein kleines Drama zur Uraufführung im diskret-privaten Rahmen. Ich fahre also zu einem Stausee. Kann man hier irgendwo einen Kaffee trinken? Nein. Also weiter.

Antenne Thüringen spielt die Hits, ich singe mit und linse nur manchmal auf mein Handy.

In Saalfeld stelle ich das Auto ab. Ich spiele mit dem Gedanken, mir die Feengrotten anzusehen und entscheide mich dagegen. Warum? Das ist im Nachhinein schwer zu sagen. Man ist manchmal, selten genug!, nicht in der Stimmung für Zauberhaftes.

In der Mocaba Espressobar trinke ich einen Kaffee und lese, dann esse ich ein Panino mit Schinken und Walnuss-Tomaten-Pesto. Der Kellner ist unverhältnismäßig begeistert von dem wenigen Trinkgeld, das ich ihm gebe. Unter einem Stadttor rauche ich die erste Zigarette des Tages. Weil ich davor Ricola gelutscht habe, schmeckt sie ein wenig schokoladig. Muss weiter.

Wohin? Richtung Rudolstadt? Hört sich nicht schlecht an, aber auch irgendwie zu groß.

Kurz vor Rudolstadt biege ich ab, in den Wald, Serpentinen, die einen Berg hinaufschlängeln, irgendwie italienisch. Ich erreiche Schwarzburg, ein zweigeteiltes Dorf, unten und oben alles Fachwerk, malerisch.

Oben drauf: Die Schwarzburg. Ich lerne, dass hier die erste deutsche, demokratische Verfassung unterzeichnet wurde, Weimarer Verfassung, 1919 war das. Was man alles nicht weiß.

Ich will hier bleiben, aber die Pension ist belegt, ein Hotel ist zu und ich bin zu scheu, um zu klingeln, in die Jugendherberge will ich nicht, die anderen Hotels sind, Google sagt mir das, zu teuer.

Schwarzburg rausgeputzt, zu sauber, zu flott, und trotzdem tot jetzt in März.

Weiter, Strecke machen, mehr sehen. Ich bin müde, würde gerne jetzt bald irgendwo ankommen, mich noch ein wenig hinlegen vorm Abendessen. Ich versuche, so zu fahren, dass es nach mehr Berg und nach mehr Wald aussieht, Thüringer Wald, das war ja so ein heimliches Ziel bei dieser Reise, die Ziele verbietet. Einmal falsch abgebogen, schon touchiert man den Wald nur noch und vor mir öffnet sich die Ebene, Felder, keine Bäume, wie zur Strafe dafür, dass ich meine halben Gedanken zu konkret an Ziele verschwendet habe.

Das Traurigste ist, dass man mehr Gästehäuser, Wirtschaften, Kneipen sieht, die leer stehen als solche, die noch betrieben werden. Ich fahre irgendwie Richtung Ilmenau, aber Richtung Ilmenau will ich nicht.

Und Rudolstadt ist wirklich zu groß, zu viele Autos und Ampeln, die Hotels schaue ich mir gar nicht erst an. Ich fühle mich überfordert und ein bisschen nervös.

Und das ist das Risiko, das man eingehen muss: Dass man scheitert beim Reisen. Dass es schiefgeht, weil man einmal verzagt ist, einmal denkt, da geht noch mehr, einmal falsch abbiegt, Ilmenau, Rudolstadt, alles Scheiße. Aber Unzufriedenheit ist eigentlich genauso verboten wie Zielehaben.

Ich passiere Teichröda und sehe eine Pension. Schaut nett aus, denke ich, muss ich mir merken. Aber hier bin ich im Tal, ich will auf den Berg. Also wieder rechts, da steht etwas von wegen Schloss. Die Pension Sonja gefällt mir aber nicht, zu privat, kein Gasthaus. Also weiter, vorbei an den leerstehenden Gasthäusern. Nie kann man sich entscheiden, immer denkt man, man findet etwas Besseres, Schleifen und Kreise fahrend wie eine irrlichternde Motte. Zum Glück bin ich allein, keine Diskussionen. Alles Part of the Game.

Zurück nach Teichröda. An der Pension Hopfgarten hängt ein Schild, Gäste möchten gegenüber, im Restaurant Hopfgarten, auf sich aufmerksam machen. Der Besitzer hat mich schon gesehen, ein älterer Herr in der glänzenden Trainingsjacke des FSV Rot-Weiß Teichröda.

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Ich sage, dass ich auf der Suche nach einem Zimmer sei. Kann er haben, sagt der Mann. Man wird hier nicht gesiezt oder geduzt, sondern geerzt. Und zwar konsequent. Er murmelt etwas Unverständliches und läuft dann voran Richtung Restaurant, ich hinterher. Auf halbem Weg dreht er sich um und sagt, er könne auch warten, weil er nur die Schlüssel hole. Also einmal er ich, einmal er er. Als er mir aufsperrt fragt er, ob er zum Arbeiten hier sei. Ich sage, nein, ich fahre einfach durch die Gegend, bis ich keine Lust mehr habe. Ahja, sagt der Mann.

Dann spaziere ich durch den Ort. Er ist wirklich ganz hübsch, kein Schiefer mehr, alles Fachwerk, keine Leerstände. Liegt vielleicht am Gewerbegebiet Teichröda. Sonst aber ist hier nichts. Keine Bar, noch nicht mal eine Spielo, keine Menschen auf der Straße, keine Wanderkarte. Nur ein Friseur und ein zweites Restaurant, Alter Konsum, leider Betriebsurlaub.

Weil der Mann nicht sehr freundlich war, onaniere ich ihm in die Dusche.

Eine Stunde lang kämpfe ich mit der Fernbedienung. Keine Sender. Kein Signal. Endlich finde ich heraus, wie man einen Suchlauf startet. Kein Erfolg. Ich will nicht um Hilfe bitten müssen. Immer wieder Menü, zurück, Einstellungen, Ok. Manchmal funktioniert die Fernbedienung, manchmal nicht. Ich werde zornig. Dann entdecke ich zwei weitere Fernbedienungen auf dem Fliesentisch. So geht das.

Im Restaurant sitzen außer dem Wirt noch drei weitere Gäste. Zwei verabschieden sich bald. Einer sitzt noch schweigend mit dem Wirt zusammen. Ich bestelle Bier, Apoldaer, es schmeckt sehr gut. Ich frage, worum es sich beim Thüringer Rostbrätel handelt. Ein Kammfleisch, sagt der Wirt, vom Schwein. Das probiere ich, sage ich. Das Rostbrätel ist mit einem Haufen Zwiebeln bedeckt, die ich nicht so mag. In den Bratkartoffeln erkenne ich Speck. Der Wirt fragt: Wann will er denn frühstücken?

Wieder nur zwei Bier. Diese Minimalkommunikation den ganzen Tag, alles zweckdienlich, alles Dienstleistung, verursacht, dass ich entweder in Dialogen mit mir oder mit ihr oder in Schreibsprache denke. Man reibt sich innerlich wund. Ich würde gerne weitertrinken, aber hier fühle ich mich nicht wohl damit, noch eins zu bestellen und dann alleine hier sitzen zu bleiben mit dem Trainingsjackenmann, der kein Interesse daran zu haben scheint, mir ungefragt seine Lebensgeschichte zu erzählen.

Also rauche ich auf meinem Balkon. Die Pension ist architektonisch ein bisschen wie ein Motel. Thüringen ist Kalifornien.

Wo zur Hölle bin ich? Teichröda.

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Vielleicht eine Fehlentscheidung. Hier wird nichts Berichtenswertes mehr geschehen. Ich fühle mich unter Druck, morgen was richtig Gutes zu finden. Und eigentlich schreit vieles in mir nach Heimkehr. Das ist nicht drin, keine Kapitulation.

Am Morgen ist der Rotz noch da, aber durchsichtig, das ist ein gutes Zeichen bekanntlich. Alle Gedanken an Heimkehr fortgewischt. In der Nacht träumte ich von einem Mädchen. Wir lagen in Berlin auf der Straße, mein Kopf auf ihrem Bauch. Ich hatte ein riesiges Terrarium gekauft und nun sprachen wir darüber, welches Tier darin leben sollte. Ich dachte an eine Echse, einen Waran, sie meinte, dafür sei mein Terrarium zu klein. Dann war ihr Gesicht ganz nah an meinem. Ich wusste nicht, ob ich durfte, wir zögerten, dann spürte ich ihre Lippen. Sie waren sehr surreal weich. Wie alpenländisches Gebäck. Ich wachte auf und sah, dass genau dieses Mädchen mir geschrieben hatte.

Ich habe weniger Schmerzen als an den Vortagen und bin voller Tatendrang. Aber ich bin mir unsicher, ob ich jetzt in den Thüringer Wald, also quasi zurück, oder nach Jena fahren soll. Der Wirt hat mir ein Frühstück vor die Tür gestellt. Ich versuche, die Entscheidung per Whatsapp auf verschiedene Freunde abzuwälzen. Die meisten sind dafür, dass ich in den Wald fahre. Im Auto sitzend entscheide ich mich für Jena. Ich will den Abend nicht vorm Fernseher, sondern in einer Bar verbringen.

Ich habe jetzt ein Ziel. So war das nicht gedacht gewesen. Aber Jena hört sich irgendwie gut an.

Jena. Hier, entlang der Saale, ist es schön, sanfte Hügel, in denen Nebel hängt, Dörfer, die gar nicht so sehr nach Verfall aussehen. Ich sehe ein Schloss auf einem Berg, also biege ich rechts ab. Das Schloss ist eine Burg, die Weißenburg, sie liegt direkt neben einer imposanten Rheumaklinik.

Ein Wegweiser sagt, ein Kilometer auf den Elsterberg. Ich beschließe, ein bisschen zu laufen. Erst geht es durch einen kahlen Wald, dann über eine Wiese. Unter mir hängen die Wolken im Tal. Ich komme mir vor wie im Gebirge.

Ich bekomme wenig Luft durch die Nase, der Kopf pulsiert vom Rotz. Egal.

Goethe muss wohl, das steht auf der Wanderertafel, gesagt haben, er finde diese Gegend, das Saaleland, ganz herrlich. Man fragt sich, wo der damals seinen Klumpfuß nicht hingesetzt hat.

Wäre vielleicht mal eine Idee für einen sehr schönen, sehr dünnen Reiseführer: Urlaub machen, wo Goethe nie gewesen ist.

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Nach meiner kurzen Bergtour will ich natürlich auch noch die Burg betrachten. Zwei Vermesser bauen hier gerade ihr Vermessungsgerät auf. Immer muss dieses Land vermessen werden, das hört nie auf.

Ich gehe durch ein Tor und ignoriere ein gelbes Schild an einem Baum: Privatgrundstück, Eltern haften für ihre Kinder. Blödsinn, denke ich. Man wird sich ja wohl noch eine Burg anschauen dürfen. An der Burg hängt auch das Schild einer Biermarke, vielleicht bekomme ich hier sogar einen Kaffee. Und dort vorne ist so eine Art Terrasse von der ich bestimmt einen erhebenden Ausblick habe.

Ein Mann streckt seinen Kopf aus einem der unzähligen Burgfenster.

Ob er mir helfen könne. Nö, sage ich, ich schaue mich nur um. Da hängt ein Schild an dem Baum da vorne, sagt der Mann. Ich glotze ihn blöd an. Ich bin ahnungslos, soll das heißen, ein Schild habe ich nicht gesehen, bitte erklären Sie sich. Privatgrundstück, sagt der Mann. Oh, sage ich, sorry. Ja, sagt der Mann. Bin schon weg, sage ich. Ja, sagt der Mann auffordernd, ja!

Ja, doch.

Weiter Richtung Jena. Das hat gut getan. Vielleicht weil ich mit jemandem sprach, von dem ich nichts wollte, sondern vielmehr er von mir, dass ich von seinem Grundstück verschwinde nämlich.

Wenige Kilometer weiter entdecke ich ein außergewöhnliches Dorf. Es ist sogar eine Stadt, eine der kleinsten Thüringens. Orlamünde. Wieder so ein zweigeteilter Ort. Die Oberstadt krallt sich in einen Bergkamm, eine Reihe Häuser, die aussieht, als könnte sie jeden Moment herunterfallen, in die Dächer der Unterstadt. Attraktion dieser Oberstadt ist die Kemenate.

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Ich weiß nicht, was eine Kemenate ist, sieht aus, wie eine sehr alte Kirche.

Sie ist verschlossen. Ich gehe die Straße auf dem Bergkamm entlang. Pastellfarbene Häuser winden sich einen leichten Anstieg hinauf. Der Ort hat einen Instagram-Filter. Im 18. Jahrhundert gab es hier eine Bierschlacht inklusive Verwundungen. Außerdem stritten die Bürger mit Martin Luther, daran erinnert ein Denkmal. Heute schläft die Stadt, immerzu, Tag und Nacht, Schlaf. Auch in Orlamümde stehen viele Häuser leer. Einen Kaffee kann man hier nicht trinken.

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In Jena, denke ich, sollte es nicht so schwer sein, einen guten Gasthof zu finden. Ich fahre einen Kreis um das Zentrum, stoße dann hinein, glotze halb immer auf das Handy, Google Maps, hier in der Nähe sollte etwas, irgendwas mit Zum Hirsch… Viele Fußgänger um mich herum. Ich bin nicht sehr aufmerksam. Ein roter Blitz. Fuck! Vierzig in der zwanziger Zone. Zwanziger Zone! Wer macht denn sowas? Scheißdreck.

So geht das nicht. Ich fahre ein Stück aus dem Zentrum. Bei Google habe ich die Grüne Tanne entdeckt, die mir Richmann empfohlen hat. Ich sehe das Gasthaus und lese, dass hier die erste Burschenschaft gegründet wurde und dass Goethe hier gern eingekehrt sei. Natürlich! Wenn er mein Nachbar wäre, ich würde ihm das Autofenster einschmeißen.

Ich frage die Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt, ob sie auch Zimmer haben. Sie sagt: Nein. Ich sage: Na gut, alles klar, und höre mich dabei unangemessen fröhlich an. Andreas hüpfend ab.

Das Zentrum nördlich umkurven, sich irgendwie durch Einbahnstraßen schlängeln. Gasthof Zur Schweiz. Sieht sehr gut aus, aber auch so, dass man nicht ganz sicher sein kann, ob er noch betrieben wird. Die Tür ist offen. Drin sitzt eine Frau mit derselben blondgefärbten Kurzhaarfrisur. Ich bräuchte ein Zimmer. Für wen?, bellt die Frau. Naja, für mich sage ich. Also, Einzelzimmer, hänge ich an, weil ich merke, dass sie mit meiner Antwort nicht zufrieden ist. Ja, wann?, schreit sie ungeduldig. Heute sage ich, also eine Nacht. Ich kichere nervös. Achtundfünfzig Euro mit Frühstück, sagt die Frau, als handle es sich um ihren letzten Versuch, mich doch noch zu vertreiben. Is‘ okay, sage ich sehr kleinlaut, jeder Preis wäre okay gewesen, das hat sie geschafft.

Ich beziehe mein Zimmer, es ist sehr groß. Ich mache mich auf die Suche nach einer Bratwurst. Das dauert länger als gedacht. Zuerst finde ich einen Sushiwagen, einen Vegane-Burger-Wagen und diverse syrische Shawarma-Stände. Thüringen, denke ich, fuck you. Das Theaterstück von Camus, das ich mir heute Abend anschauen könnte, entfällt wegen Krankheit. Schillers Gartenhäuschen ist geschlossen, wegen Krankheit. Beim Grillteufel bekomme ich eine Wurst. Sie ist erstaunlich zäh. Jena ist eine Enttäuschung. In einem Café lese ich und belausche den Nebentisch. Ein Typ mit Bart und seltsamen Haaren, wahrscheinlich Pädagogik-Hiwi, unterhält sich mit einem Punk-Mädchen mit grünen und orangenen Haaren. Ihr Freund muss Sozialstunden machen und sie sucht einen Aushilfsjob und tanzt nicht gerne. Beide sind schüchtern, als wäre das ein Date. Einmal erwischt mich der Hiwi dabei, wie ich rüberschaue.

An dieser Stelle brechen die Aufzeichnungen ab. Man erlebt immer schnell und schreibt immer langsam. Das ist ein Problem. Ich bin dann noch nach Berlin gefahren. Da war es auch okay.

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Fetisch Einöde. Teil 1: Ludwigsstadt und was dahinter kommt

Wo bin ich?

Ludwigstadt, Frankenwald, nahe der thüringischen Grenze.

Helga, die Wirtin des Gasthauses Torpeter gibt mir eine ganze Ferienwohnung zum Preis eines Einzelzimmers. Den Preis für ein Einzelzimmer kenne ich nicht. Aber es beruhigt mich, dass der andere Gast, ein Glatzkopf, der in der Stube abwechselnd Bildzeitung und Speisekarte liest, sagt, dass das ja alles so billig sei hier. Wir sind eine günstige Region, sagt Helga.

 

Ich bin drei Stunden gefahren. In Bamberg noch Proviant gekauft: Eine zweite Packung Ricola, eine Flasche Wasser, medium, eine Packung Silomat gegen Reizhusten, zum Lutschen.

Muss reichen.

Dann auf die Autobahn Richtung Suhl, bei Lichtenfels raus, weiter Richtung Kronach. In Lichtenfels nochmal volltanken, eine Cola dazu, fünfzig Euro. Die Hoffnung, dass ein bisschen Koffein etwas hilft, gegen die Krankheit, die durch den Körper kriecht. Ich will nicht darüber nachdenken, ob ich möglicherweise Fieber habe und woher die stechenden Schmerzen kommen, im Nacken und hinten seitlich am Rücken.

Dann: In den Frankenwald eintauchen, der sich hinter Kronach öffnet, diese dunkelgrüne Wolke, dieser düstere Vorhang aus Nadeln. Kurz rausfahren, wegen einer Wallfahrtskirche Glosberg. Kann man hier einen Kaffee trinken? Nein.

1727 hat die ortsansässige Muttergottesstatue Blut geweint. Weiter oben, im Wald, ist sie einem Hüterjungen erschienen. Der Weg zum Ort des Aufeinandertreffens führt an Bildstöcken der „sieben Schmerzen Marias“ vorüber. Würde ich gern sehen, bin aber zu schwach. 2010 wurden in Glosberg 3.000 Tonnen Säureharz und 15.000 Tonnen belasteter Boden entsorgt. Eine Kronacher Mineralölfirma hatte den heiligen Boden in den 60er-Jahren besudelt. Ha.

Natürlich begegnet mir ein solcher Ort zuerst.

Die Häuser sind hoch aufragend und dunkel. Kein freundlicher Landhausstil, kein Fachwerk. Vergessene, verbitterte Orte, nichts Einladendes. Es regnet. Ich fahre nochmal raus, Rothenkirchen, ein Rewe. Ich muss mir ein kleines Schulheft kaufen, für falls ich einen Einfall habe. Es ist ein kleines Schulheft mit Feuerwehrmännern. Ich habe wenige Einfälle.

Wo bin ich? Und warum?

Ich habe jetzt eine halbe Woche Urlaub. Ich bin einfach losgefahren. Nur, wer auf Facebook mit mir befreundet ist oder ein Büro mit mir teilt, weiß davon. Sprich: Sehr viele Menschen, aber nicht meine Eltern, zum Beispiel.

Es ist wichtig, dass ich kein Ziel habe, dass ich nicht weiß, wo es schön oder interessant sein könnte. Nur die Richtung muss einigermaßen eingehalten werden, Nordosten, Frankenwald, Thüringer Wald, später vielleicht noch Erzgebirge, dunkle, dunkle deutsche Depressionslandschaften. Die Fetischisierung der Einöde.

James Blunt schrieb bei Twitter, wer glaube, 2016 sei ein schreckliches Jahr gewesen, müsse wissen, dass er 2017 ein Album veröffentlichen werde. Daran muss ich immer denken.

Ich finde, ein Ei hat noch keinem Salat geschadet. Manchmal wäre ich gern ein Sänger, der Dinge sagt, wie: Bamberg! Seid ihr gut drauf? Obwohl er selbst aus Bamberg kommt.

Weg, um etwas loszuwerden, obwohl man weiß, dass das nicht geht. Und weil man das schon immer machen wollte: kein Ziel, nur fahren und schauen, wo man ein Zimmer findet, oder vielleicht gleich gar eine ganze Wohnung zum Preis eines Zimmers.

Ich kenne niemand, der so etwas mit mir machen würde, also bin ich allein. Freunde brauchen immer einen Plan, ein Ziel, einen Grund für das Unterwegssein, aber darum geht es nicht. Es ist eine Flucht, so wie immer alles eine Flucht ist.

Ludwigstadt. Eine stählerne Brücke vorm Balkon. Eine schwarzrotgoldene Fahne im Regen, schwarze und graue Häuser. Ludwigstadt, es gibt hier nichts für mich zu tun. Ein Märchendeutschland. Ich denke an alle Mädchen und schreibe Texte für frühestens posthume Veröffentlichungen. James Blunt schreibt auf Twitter, dass bald Muttertag sei, die beste Ausrede, sich sein neues Album zu kaufen.

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Ich schrieb einmal ein Gedicht, das Fuck 2016 hieß und von Wandtattoos handelte. Es ist sehr kurz.

Helga hat nur eine kleine Speisekarte, ich bestelle ein Schnitzel und ein Bier. Ein Stammgast ist da und liest die BILD, sonst niemand. Sie fragt, was mich nach Ludwigstadt verschlägt, ich sage, der Zufall und bin froh, diese Antwort untergebracht zu haben.

Helga, wie sie bedächtig zapft, sorgfältig, mit Zeit.

Als sie sieht, dass ich mich mit dem Bier auf einen leeren Tisch zubewege, sagt sie, dass ich mich ruhig dazu setzen darf, was eigentlich heißt, dass ich mich dazu setzen muss.

Der Stammgast ist vielleicht vierzig, möglicherweise jünger, ein großer Typ. Früher Basketball gespielt, auch gegen die Bamberger. Ein Team aus Lurtsch, so sagt man hier statt Ludwigstadt. Einen Trainer hatten sie nicht. Manchmal hätten sie die Bamberger geputzt, obwohl die Amis mit Sprungfedern in den Beinen hatten. Und im Winter wollten die Bamberger dann nicht nach Lurtsch hochkommen, wegen fünfzig Zentimeter Schnee. Geschenktes Spiel. Eine wilde Zeit gewasen, sagt der Basketballer. Gewasen, e ist hier oft a, seltsamster Dialekt.

Nicht nur Basketball. Der Stammgast hat alle Sportarten gemacht. Skifahren, Tischtennis, Faustball. Jetzt dürfe er nix mehr, der Rücken ist kaputt, seit zwei Wochen krankgeschrieben. Eigentlich arbeitet er als Heizungsbauer. Knapp zweitausend wohnen noch in Lurtsch, die Jungen ziehen weg. Eh klar, alter Hut. 1924 ist eine Dampflok von der stählernen Brücke gekippt, mitten in die Häuser rein. Moment, eine Sportart geht noch, trotz Rücken: Sportangeln.

Manchmal lesen wir, er BILD, ich Zeitmagazin, biernippend. Manchmal erzählt er was. Ich verstehe etwa siebzig Prozent.

Helga, sagt er, das muss ich noch erzählen, du schmeißt dich weg.

Die Leonie, das ist seine Tochter, habe heute ihren Loverboy mitbringen wollen. Hier oben, habe er gesagt. Er tippt sich an die Stirn. Kommt nicht in Frage. Und dann stand der Typ auf einmal auf der Matte, bei ihm. Dreizehn ist die Leonie. Da ist das Auto, habe er ihm gesagt, einsteigen, ich fahr dich zum Bahnhof, mir egal, wie du heimkommst. Zum wilden Tier sei er geworden. Als der Loverboy dann am Bahnhof stand, habe er ihm fast leidgetan. Das war ein Landsmann von dir, Bamberger. Helga schmeißt sich nicht weg. Ich innerlich.

Schnitzel, Pommes, Salat, zweites Bier. Später kommt noch ein kleiner, dicker mit Walrossbart. Hat Licht bei der Helga gesehen. Der Basketballer und der Walrossbart unterhalten sich über den Kleenen von einem Bekannten, der jetzt Kommandant bei der Freiwilligen Feuerwehr ist. Aber sonst sei Arbeit nix für den, sagt der Walrossbart. Der Basketballer meint, das liege vielleicht an dem Zinken in seinem Gesicht, bis der sich dreht, gegen Wind… Nee, nee, sagt der Walross, das sei der Große mit dem Zinken.

Fast zwei Stunden in Helgas Wirtshaus. Ich lerne viel. Waller und Kormorane sind Biester, richtige Krüppel. So ein Waller, ein richtiges Raubtier. Frisst einer Ente ihre Jungen weg mit einem Happs. Dann legt der Krüppel sich schon mal drei Wochen hin und verdaut. Walross nickt, Basketball trinkt sein viertes Bier aus und verabschiedet sich.

Ich ziehe mich auch zurück. Tut es gut, normalen Menschen zu lauschen, wenn sie über Fische und Feuerwehr und Renovieren reden, ist es das? Oder tut es gut, zwei Bier zu trinken. Es ist noch nicht mal acht. Es regnet noch immer. Wo bin ich? Ludwigsstadt. ARD einschalten.

Ich schlafe sehr schlecht. Immer wieder wache ich auf, in panischer Angst, ich hätte mein Frühstück verschlafen. Ich habe mich für neun angekündigt. Es ist zwei, dann vier, irgendwann sechs Uhr. Ich habe einen ekelhaften Kopfschmerz als ich mich aus dem Bett wälze. Der Rotz ist heute sonnengelb, dafür sind die Rückenschmerzen verschwunden.

Helga hat mir ein üppiges Frühstück vorbereitet. Brötchen, Marmelade, Nutella, Wurst, Käse, Kaffee, von allem zu viel. Zu viel, sage ich und: Aach!

Während ich frühstücke, kocht sie Gulaschsuppe für die Feuerwehr. Sie sagt, den Gasthof gebe es schon seit sechzehnhundertirgendwas. Immer im Familienbesitz. Aber mit mir stirbt er wahrscheinlich. Die Kinder wollen ihn nicht und ich bin ja auch nicht mehr die Jüngste. Ich sage, dann alles Gute weiterhin, weil mir nichts Besseres einfällt.

Ich kann schlecht durch die Nase atmen, spucke während meines Spaziergangs durch Ludwigsstadt ständig gelbe Brocken aus. Am Morgen ist es immer am schlimmsten. Ich denke an Tennisarschlöcher, den Urgrund allen Hasses. Fucking lange her.

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Ich weiß, dass ich nach Hause fahren sollte, aber das geht nicht. Jetzt ist Urlaub. Also fahre ich, wie es mir der Basketballer empfohlen hat, zuerst auf die Burg Lauenstein. Ich besuche die Pralinenfabrik nicht.

Kurz nach Lauenstein passiere ich die deutsch-deutsche Grenze. Die Häuser sind genauso schieferdunkel, auf dieser Seite stehen nur mehr davon leer. Ich befinde mich im Thüringischen Schiefergebirge und wusste nicht, dass es existiert.

In Probstzella wieder raus. Eigentlich ein schöner Ort, alt, in den Berg gebaut, Kirche. Ein Leerstand neben dem anderen. Alle Menschen, denen ich begegne, sind alt. Wie wird das hier in zwanzig, in dreißig Jahren aussehen? Was wird bleiben außer ein paar Hippies, die sich die verfallenen Höfe billig unter den Nagel reißen?

Auf dem Weg zum Haus des Volkes beäugt man mich. Man ist immer Eindringling. Heben die Männer auf dem Friedhof gerade ein Grab aus? Ich will nicht zu lange hinschauen. Ist mein Foto vom leerstehenden Videoverleih brauchbar? Ich weiß es nicht, aber ich kann kein zweites machen, weil ich nicht der Elendstourist sein will, der ich eigentlich bin.

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Das Haus des Volkes ist Thüringens größter Bauhausbau. Jetzt ein Hotel mit einem Park, in dem ein paar rote Lampen stehen, ein Kneipbecken, ein runder Pool. Alles verwittert. Unklar, ob man in das Hotel noch einchecken könnte. Zwischenstufen des Verfalls.

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In Probstzella habe ich erstmals wieder Internet auf dem Handy. Diverse Nachrichten kommen rein. Ich muss weiter.

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Weiter, tiefer hinein also in die dunklen, deutschen Wälder. Fast wie Kalifornien. So hoch die Nadelbäume, so steil fahren die Berge am Straßenrand in die Höhe. Thüringen, das Kalifornien Deutschlands. Ein cleverer Marketingspruch vielleicht. Ich passiere eine Ortschaft die Gottes Gabe heißt und so aussieht als hätte sie ein paar Gaben des Allmächtigen dringend nötig. Es ist eine der schönsten Straßen, die ich in Deutschland bislang gefahren bin.

Was gibt es noch zu sagen, das interessant wäre?

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Asien, 2015, Smartphone

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So geht es los. München, Flughafen, später Nachmittag. Kann über das Fliegen noch irgendetwas geschrieben werden? Ich glaube, nein. In meinem Gesicht (links im Bild) sehen sie die Vorfreude auf die On-Board-Filmauswahl. Ich poste das Bild bei Facebook, erstmals mit Smartphone unterwegs. Muss man ausnutzen.

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Städte nach Kommunisten benennen. Eine schöne, aussterbende Tradition. Ho-Chi-Minh-Stadt heißt Ho-Chi-Minh-Stadt, oder City, oder HCMC. Wie eine Atemwegserkrankung. Die Männer in den dunkelgrünen Uniformen mit goldenen Sternen auf rotem Grund auf den Schultern wollen uns nicht reinlassen. Weil wir keinen Nachweis haben, dass wir in zwei Wochen wieder abhauen. Ich bin mit einem Fuß schon wieder im Flieger, egal wohin, weil ich noch was fertig schauen muss. Dann buchen wir einen Bus, der uns in zwei Wochen aus der Stadt bringen soll. Wir buchen ihn sogar doppelt, weil uns per Mail nur eine Fehlermeldung erreicht. Dann lassen sie uns rein. Nix Lost in Translation, nix Edward Snowden. Am Abend Hot Pot mit Undefinierbarem, möglicherweise Darm und Ohr, möglicherweise vom Schwein. Schmeckt nicht schön.

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HCMC: Am ersten Morgen steigt J. verschlafen aus seinem Bett. Er hat okay geschlafen, er hat noch den Flug in den Knochen und er mag die Klimaanlagenluft nicht so gerne. Jetzt muss er pissen. Er ist flott unterwegs, J. ist immer flott unterwegs, ganz oder gar nicht, an oder aus, immer hundert Prozent. Dann schreit er und ich schrecke aus dem Bett und sehe, dass J. nur noch auf einem Bein steht und springt und den linken Fuß in den Händen hält. Es hat keinen Tag gedauert, bis sich der erste verletzt. An der absolut unnötigen Schwelle zum Klo den großen Zehennagel geopfert. Der steht jetzt scharfkantig in der Luft.

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Mui Ne. Der Strand ist schlammfarben und verschwindet jeden Tag ein bisschen mehr. Im Meer jagen Kitesurfer nach den Köpfen der Schwimmer. Mui Ne ist nur eine langgezogene, schmutzige Straße, links Massage, rechts Bungalow. Wir werden von zahnlückigen Rollerfahrern umschwirrt. Das Gefühl, für immer schlafen zu können. Die Asiatinnen, die einen bei jeder Bestellung auslachen. Die Sehnsucht, wenigstens ein bisschen Müll trennen zu dürfen. Viel Dosenbier und Gin-Tonic bei Joe’s, um irgendwie alles loszuwerden. Und immer wieder der blinde Rosenverkäufer, der von seiner Tochter durch die Reihen der Essenden und Trinkenden geführt wird: „Ekskjuuse mee…“Ab 22.30 Bayern gegen Dortmund in der russischen Sportsbar Ultras. Der Besitzer findet, Müller sei ein guter Spieler und Lewandowski eine Prostituierte. Ergebnis: 5 : 1. „That’s football.“

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Da Lat. Ja, im Wäldchen beim Kloster regnet es und wir müssen der Frau diese Plastiktüten-Ponchos abkaufen, aber repräsentativ ist dieses Bild nicht, weil Da Lat ist schön. Hier gibt es Skater, die Milchkaffee verkaufen und eine Band, die an jedem verdammten Abend das selbe spielt. Wonderwall zum Beispiel. Heute aber nicht Linkin Park, weil der Sänger ausfällt. Ich lasse mir die Haare schneiden, die sehr jugendliche Friseurin streckt danach beide Daumen hoch und grinst ganz wunderbar. Erinnert mich an ein Pokémon. Wir machen eine Secret Tour, bei der ich eine Holländerin auf dem Roller durch das Hochland fahre und wir von Dorfbewohnern für bombenschmeißende Amis gehalten werden. In Da Lat verspeise ich folgende Lebewesen: Grille, Ratte, Frosch, Schlange, fast Hund. Cool.

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Phu Quoc ist eine Insel. Man kann Kambodscha von hier aus sehen, aber man kommt nicht rüber, weil Vietnam und Kambodscha sich immer streiten, wem Phu Quoc gehört. Wir treffen einen Australier, der mit einer Hamburgerin reist und verstehen kein Wort von dem, was er sagt. Netter Kerl auf jeden Fall. Am besten ist es immer, sich einen Roller zu mieten. Und sich auf dem Nachtmarkt einen Thunfisch zu kaufen. Wir besuchen eine Disko, sie heißt Pirate’s Cave. Die DJane sieht cooler aus, als sie auflegt. Meistens ohrenbetäubende Remixe der neusten Superhits. Es ist ziemlich eisig kalt und ab und an kommt ein Pulk weißer Typen in Unterhemden rein und einer reißt so die Arme in die Höhe und streckt die Zunge raus und die anderen stehen außen rum und wissen eigentlich auch nicht so recht. Es gibt viele Asiatinnen mit sehr kurzen Röcken. Die anderen drängen mich, diesbezüglich etwas zu unternehmen. Ich frage ein Mädchen nach ihrem Namen, sie geht weg. Wird als Erfolg verbucht.

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Grenzübergang. Erst gibt man seinen Pass einer Frau, die den Pass dem Busfahrer gibt, der Busfahrer gibt den Pass dann einem Mann, der an den Autos in der Nähe der Grenze rumlungert, der geht dann voran. Dem geht man nach. Der rumlungernde Mann gibt den Pass an der Grenze einer Frau, die so aussieht, wie die erste Frau, die gibt den Pass dann einem kambodschanischen Grenzer. Die beiden Länder sind sich irgendwie nicht so ganz grün. Deswegen baut Kambodscha Casinos an die Grenzen. Die sind in Vietnam verboten. Auf die Art verhindert Kambodscha, angeblich!, dass die Vietnamesen ihre Grenze verschieben.

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Koh Rong wird einem wie jede Insel in diesen Gewässern als das Tropenparadies auf Erden angepriesen. Ist ja auch echt schön, aber dann zieht das immer diese Unterhemden an, die Pub Crawls und Sandwrestling veranstalten. Ist ja auch ihr gutes Recht. Andere leben tatsächlich davon, Goa-Dj zu sein und wenn man mit denen eine Bootstour macht, haben sie Boxen dabei und legen voll oldschool ihren geschmacklosen Schund auf (echt chillig, Mann!) und verjagen alle Fische. Ich fange trotzdem zwei, J. auch. Am nächsten Morgen muss er mich ans Festland begleiten: Habe die schrecklichsten Schmerzen meines Lebens, im Ohr. Beim Essen fallen mir die Nudeln aus dem Mund. Nachts wache ich auf, sobald die Wirkung der Ibuprophen nachlässt. Der viel zu junge Arzt im wunderbaren Krankenhaus in Sihanoukville verschreibt mir ein bisserl Codein. Das hilft.

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Bei der Rückfahrt teilen wir uns den Kahn mit Baumaterial. Es wird ständig überall gebaut, das ist die Nebensaison.

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Wenn Sie ein Sextourist sind oder werden wollen (uns ist ja jeder Leser recht, ein Klick im anonymen Ozean der Klicks), sich aber vor der strengen thailändischen Polizei und den verurteilenden Blicken der Touristen fürchten, dann ist Phnom Penh möglicherweise genau das richtige für Sie. Es ist, so scheint es, das Paradies der Haarlosen und Fettleibigen, der Teigfinger und Wulstlippen. Das ist nicht schön anzusehen. Zum Glück sehen wir auch einen Affen.

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Ich habe mit meiner Spiegelreflex auch gute Bilder von dem Affen gemacht, aber hier ist jetzt mal nur Smartphone, also muss man sich mit dem Mist begnügen. Generell würde ich sagen, früher war mehr Affen. Der hier ist ein Tempelaffe, der passt da auf, dass alles mit rechten Dingen zugeht, ärgert die Katze, schaut Kickboxen im Fernsehen. Solche Sachen. Hihi, Affe.

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Nach Siem Reap fahren die meisten Leute ja wegen den Tempeln von Angkor Wat. Dabei gibt es dort auch ganz hübsche Plastiken von Vögeln, die die Gedärme eines Menschen fressen. Buddhismus, du machst es richtig.

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Wir sind mit einem Tuk-Tuk-Fahrer verabredet, der holt und so gegen 4 Uhr morgens ab. Denn: Den Sonnenaufgang darf man überhaupt auf gar keinen Fall verpassen. So sieht man dann um die Uhrzeit aus. Bleich, fettiges Haar, Reisebart, übergewichtig. Man setzt sich an den Teich und wartet, dass hinter Angkor Wat die Sonne aufgeht und versucht dabei krampfhaft, bloß nicht einzuschlafen. Als die Sonne sich dann so langsam zeigt, hat sich ein Grüppchen mit ihrem Guide am Ufer des Teiches platziert. Hinter mir stehen fünfzig bis hundert Leute. Die ärgern sich jetzt. Irgendwann erbarmt sich einer und schreit: „Guys! Move ayway! You’re ruining the shot!“

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Schon gut. Aber wenn man jetzt nicht generell jemand ist, der gerne und immer um vier aufsteht, dann, ganz ehrlich, kann man auch noch bisschen liegen bleiben. Angkor Wat ist große Klasse. Aber dieser Sonnenaufgang ist überbewertet. So, jetzt ist es raus.

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Und fegen. Immer fegen. Das ganze Land muss immer optimal gefegt sein. Da wird bei Angkor Wat keine Ausnahme gemacht. Auch Ruinen kann man ab und zu mal ordentlich durchfegen.

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Bangkok. Du warst schon mal hier und denkst, Ah, ja, Bangkok, typisch Bangkok, so ist einfach Bangkok. Wie ein alter Hase. Du wimmelst die Leute ab, die dir was zeigen oder was andrehen wollen. Du knallst dir nen Skorpion vom Spieß rein, den die anderen schnell kaufen, während du auf dem Klo bist. Und du holst dir im Mission Hospital eine neue Ladung Antibiotika. Wegen des Ohrs. Dort wirst du auch gewogen wie ein Mastvieh. Und das ist nun wirklich keine schöne Urlaubserfahrung.

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Okay. Wir sind vier Wochen durch Südvietnam und Kambodscha gehetzt. Im Schnitt drei Tage pro Ort, oder vier. Dann rein in den Nachtbus, da schläft man eh nix. Und dann bleibt er noch liegen. Dann Sight-Seeing. Hier ein Tempel, hier ein Foltermuseum, hier altes Kriegsgerät, zwischendurch ein Eiskaffee, am Abend Sea Food. Vieles ist gar nicht schön, sondern billig oder Baustelle. Dafür ist es heiß und auf meiner einzigen kurzen Hose sind noch immer Fettflecken von einer Pho-Suppe in Ho Chi Minh Stadt. In Bangkok verabschieden wir uns von M., die jetzt heim und arbeiten muss. U., J. und ich wollen uns jetzt entspannen. Und dafür fahren wir nach Koh Phayam und machen dort genau nix. Fünf Tage mindestens hatten wir gesagt, am Ende sind es zwei Wochen. „You don’t need to go anywhere else. This is the best place“, hatte uns ein Schwede gesagt und weil der ein Arschloch war, wollten wir nicht auf ihn hören, taten es dann aber doch.

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Dieser junge Mann setzte sich in der Jungle Bar neben uns. Er sagte: „Hi, do you want bamboo tattoo?“ Das sei sehr ungefährlich sagte er, man könne am nächsten Tag schon wieder in die Sonne und auch ins Wasser. Ich erkundigte mich nach den Preisen. Dann sagte ich: „Hm.“ Wir dachten eine Nacht lang drüber nach. U. entschied sich für ein Horusauge, das passt, weil es für Gesundheit steht und U. so ein Hypochonder ist, der ständig glaubt, sich Malaria eingefangen zu haben. Ich habe jetzt einen Käfer, wegen des Derms aber auch sonst. Es gibt ja nichts Dämlicheres als Tattoos mit Bedeutung.

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Hier freue ich mich, weil ich so ein furchtloser, cooler Typ bin. Ganz süß eigentlich, oder?

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Diese Sache noch. Das ist die Hippy Bar. Als wir Koh Phayam erreichen, ist die Hippy Bar noch zu, wegen Nebensaison. Im Laufe der Woche schmeißen die Hippys ihren Generator an und verkaufen Bier. Sonst nix. Dann sitzt man da so rum, wenn man Glück hat, mit Anti, dem finnischen LKW-Fahrer, wenn man Pech hat, mit einem Engländer, der uns fragt, ob die fucking Merkel eigentlich übergeschnappt sei, die ganzen invaders in sein schönes Europa einzuladen. (Auf Koh Phayam wohnt außerdem ein Rudi, der davon überzeugt ist, Barack Obama sei schwul und Michelle eigentlich ein Michael (man kann das auch googeln, ich will das hier jetzt nicht verlinkt haben) und in Europa herrsche Bürgerkrieg und an der syrischen Grenze stehen zwei Container mit Dollars und iPhones 6 und wenn die Syrer dann Europa übernehmen sollen, bekommen sie alle eine SMS auf ihr iPhone…) Wenn der Generator dann den Geist aufgibt, ist es stockdunkel und also Feierabend. Wir sind ohnehin schon dicht genug. Ich stehe schlingernd auf, weil ich noch schnell ins Meer urinieren möchte. Ich leuchte mir mit einem Feuerzeug und erkenne den Steg, der von der Hippy Bar an den Strand führt. Sobald ich ihn erreicht habe, brauche ich nicht mehr leuchten, denke ich, vergesse dabei aber, dass der Steg sich nach Zentimetern in zwei Stege aufteilt. Ich trete ins Leere, kippe vornüber und knalle mit den Rippen auf einen Pflock. Fast gepfählt, denke ich, während ich mich stöhnend im Sand wälze.

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Und Phuket, also zumindest Phuket Stadt, ist auch besser als ihr Ruf. Wir unterhalten uns mit Ukrainern über den Krieg in ihrem Land, dann geben sie uns Wodka aus, der sogar recht erträglich ist.

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Wenige Stunden bis zum Heimflug. Der Reisebart wächst mir unangenehm in den Mund.

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In diesen sechs Wochen habe ich immer wieder Häme ertragen müssen, weil J. und U. einen deutlich rascheren Rückflug haben als ich. Nach zwei Stunden Aufenthalt in Doha, geht es auch schon weiter. Ich bleibe knapp zehn Stunden. Was die beiden nicht wissen, ist, dass sie daher den Sonnenaufgang verpassen, der am Morgen durch die Fenster linst. Und eine kalte, unbequeme, schreckliche Nacht in einem Quiet Room.

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Fazit? Lieber kein Fazit, wenn man nichts Neues zu sagen hat. Reisen sind gut. Sollte man definitiv ab und zu machen. In Asien sind die Menschen freundlich und das Essen schmeckt gut. Auch wenn einem auf Dauer die Knusprigkeit abgeht. Während des ganzen Rückfluges freue ich mich auf eine Butterbreze und ein belegtes Brötchen. Das kaufe ich mir in Frankfurt und stopfe es innerhalb von Sekunden in meinen Mund.

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Jetztzeit

Für den Hildesheimer Student und Ironman, Urs Humpenöder, heißt Urlaub machen Fahrradfahren und: Tanzen, tanzen, tanzen. Ein Gastbeitrag.

Heute ist Samstag. Heute  ist das Seebrücken-Fest in Boltenhagen. Die Seebrücke gibt es seit 1992 und sie ist 290 Meter lang. Am Festabend ist sie aber geschlossen, denn die Pyrotechniker installieren Feuerwerkskörper und ein DJ stellt seine Lautsprecherboxen auf. Die Kurverwaltung Boltenhagen hat auch eine Band engagiert. Die Sängerin der Band steht barfuß auf der Bühne des Ostseebads, das seit 1803 dort steht. Sie hat stämmige Waden, trägt einen Kunstlederrock von C&A und einen dazu passenden Gürtel. Sie singt Coverversionen bekannter Lieder, von den 1970er-Jahren bis heute, von Abba bis Bruno Mars. Ihre Band kommt aus Berlin. Der zweite Sänger ist ein sehr dünner, hyperaktiver Stimmungsmacher. Er feuert die Leute an, bringt sie dazu, die Texte mitzusingen. Vielleicht hat er früher im „Bierkönig“ auf Mallorca sein Geld verdient. urs2 Als die Band das Lied „Nossa“ spielen will, bittet der Dünne alle Kinder auf die Bühne. Die Kleinen sind begeistert und stürmen hoch. Auf der Bühne bildet sich eine lange Reihe von Kindern, die verschüchtert, aufgeregt und stolz ins Publikum zu ihren Eltern schauen. Die Eltern fotografieren mit ihren Handys und Kameras ihre eigenen Kinder, während die Sängerin den Refrain von „Nossa“ anstimmt und die Kinder kollektiv mitsingen. Die Eltern freuen sich und die Kinder klatschen in die Hände. Es ist Urlaub in Deutschland. Die deutschen Urlauber, die im eigenen Land ihre Ferien verbringen, haben gute Laune. Die Sonne ist an der Ostsee schon untergegangen und die Eltern kaufen ihren Kindern buntleuchtende Ventilatoren und Lichtschwerter. Es sieht aus, als würden hundert kleine Jedi-Ritter in die Schlacht ziehen, begleitet von hundert Jedi-Ritterinnen, die ihnen mit ihren Ventilatoren Erfrischung bringen.  Manche Väter haben ihre Kinder auf die Schulter genommen und wippen im Takt in ihren Turnschuhen. Einige tragen auch Sandalen. Mitten in die Menge fährt eine alte Frau mit ihrem elektrischen Rollstuhl. Sie fällt auf, weil ihr Rollstuhl Orange blinkt, nicht neonfarben wie die Lichtschwerter der Kinder. Die Frau kann ihr Gefährt nur noch mit dem Mund steuern. Die Menschen, die die Musik der Coverband gut finden, gehen schnell einen Schritt zur Seite, dass die Frau durchfahren kann. Auf dem Tacho ihres Rollstuhls steht 1,1 km/h.

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stefan mesch

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